Für mich ist die Sieben eine magische Zahl, eine Reportage von Karmela Neiburger - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Women + Work



AVIVA-BERLIN.de im Mai 2024 - Beitrag vom 30.10.2013


Für mich ist die Sieben eine magische Zahl, eine Reportage von Karmela Neiburger
Karmela Neiburger

Seit Jahrhunderten werden Alevitinnen und Aleviten in der Türkei verfolgt. Ein Teil von ihnen hat ihre Heimat in Deutschland gefunden. Die aus Lettland stammende jüdische Journalistin ist ihren Spuren nachgegangen. Aus Interviews mit den Frauen der Familie Sahin sind fünf Portraits und ...




... eine Freundschaft entstanden.

Seit fast zwei Jahren gibt es in Berlin-Kreuzberg in der Gneisenaustraße 65, das Café "7 Schwestern". Die Besitzerin Zeynep Sahin hatte nicht erwartet, dass das Café so schnell populär wird. Stille Momente gibt es selten. Die Kunden duzen sich mit Zeynep und Sevil, einer ihren jüngeren Schwestern, die hier auch mithilft.

"Wir sind wie ein Nachbarschaftslokal", meint Sevil.



Jeder Gegenstand hier ist etwas Besonderes. Ob der Kronleuchter, das Tischlein mit gekrümmten Füßchen und einer Karaffe Wasser darauf, oder das intensiv grüne Bild an der Wand – trotz unterschiedlicher Stile passen sie zueinander.
Links vom Ladentisch hängen Kinderzeichnungen. "Die sind von unseren Kindern. Von Kindern unserer Kunden", erklärt Sevil. "Sie malen an diesem Tisch", sie zeigt an einen kleinen Tisch am Fenster, voll mit farbigen Bleistiften, "und dann hängen wir ihre Zeichnungen an die Wand. Die Kinder freuen sich immer, wenn sie ihre Bilder hier sehen."



Ich muss an die Arbeit eines begabten Designers denken. "Das alles hat sich Zeynep ausgedacht: Jedes Stück hat sie ausgewählt, die Möbel, die Lampen, die Kinderecke..." sagt Sevil. Zeynep, im weinroten Kleid, mit gleichfarbigem Halstuch, Schuhen und Lippenstift schaut zuerst ernst, dann lacht sie und spricht über ihre Leidenschaften: Design, Mode, Fotografie. "Und diese Fotos sind ihre Idee", spürt Sevil meinen Blick. Da, an der Wand aus robustem rotem Ziegelstein hängen alte Familienfotos, vorwiegend Schwarz-Weiß, nur einige farbig, die die Café-Besucher in die Vergangenheit der Familie Sahin eintauchen lassen.

Die deutsche Geschichte der türkisch-alevitischen Familie Sahin begann in den 1960er Jahren, als Huseyin Sahin mit seiner Frau Meryem und den drei kleinen Töchtern – Sati, Zeliha und Zeynep – aus Ostanatolien nach Krefeld kam. Das Leben in dem kleinen anatolischen Dorf war so armselig, dass die Möglichkeit, ein wenig Geld zu verdienen für die Familie eine echte Rettung war. In Krefeld mieteten sie eine 1-Zimmer-Wohnung, wo die fünf zusammen lebten. Huseyin und Meryem arbeiteten in einer großen Metallfabrik, die Kinder gingen in die Schule. Noch vier Töchter, eine nach der anderen, kamen hier zur Welt und verstärkten damit die weibliche Seite der Familie Sahin. Nach einem Herzanfall starb Huseyin im Alter von 46 Jahren. Jetzt musste Meryem alleine für die Kinder sorgen.

Wahrscheinlich hat Meryem die ganze Kraft Anatoliens in sich gespeichert und wie eine Eiche, die ihre Wurzeln tief in der Erde hat und die Krone ihrer Zweige nach außen trägt, hat sie die Kraft an ihre Krone – die sieben Töchter weitergegeben. Sie wollte, dass es den Kindern an nichts fehlt und sie nie hungern müssen. Die Nachbarn wunderten sich über ihre Lebensmittelvorräte im Keller: "Wenn etwas passiert, Meryem, seid ihr lange mit allem versorgt."

Alle sieben Schwestern und ihre Mutter sind eine nach der anderen nach Berlin gezogen. Und jede von ihnen hat ihre eigene Geschichte. Die älteste, Sati, hat mit ihrem Mann einen Lebensmittelladen eröffnet. Sonay und Meral arbeiten auch dort. Zeliha ist Altenpflegerin. Hatice hat eine Ausbildung zur Erzieherin gemacht. Zeynep und Sevil arbeiten im Café "7 Schwestern". Jede der sieben Schwestern ist wie ein Zweig einer Eiche, wie ein Arm eines Kronleuchters. "Für mich ist die Sieben eine magische Zahl", sagte Sevil geheimnisvoll zu mir. "Sie hat recht", dachte ich mir. "Sieben Tage der Woche, sieben Farben des Regenbogens. Sieben Schwestern".

Meryem Sahin, die Mutter, 73 Jahre alt



Meryem Sahin ist mit ihrem Mann und damals drei Töchtern aus einem ostanatolischen Dorf aus ärmlichsten Verhältnissen nach Deutschland gekommen. Zehn Kinder hat sie zur Welt gebracht: Drei Söhne starben, sieben Töchter sind geblieben. Mit 46 ist ihr Ehemann Huseyin an einem Herzinfarkt gestorben. Sie hat nie mehr geheiratet und zog ihre Kinder alleine groß. Für das Brot und die Kraft, die sie den Töchtern gegeben hat, sind sie ihr heute sehr dankbar. Vier von ihnen – Sevil, Zeynep, Sati und Hatice - sprechen mit mir über ihre Mutter.



Sevil, 34:
"Damals, als sie nach Deutschland kam, war sie verheiratet, hatte Kinder. Sie musste so leben, wie die Eltern das wollten. Mit diesen Gedanken ist sie hierhergekommen. Sie wollte, dass ihre Kinder auch so streng werden. Unsere ältesten Schwestern durften keine männlichen Freunde haben und abends nur zwei Stunden alleine aus dem Haus gehen. Als wir, die jüngsten, geboren wurden, hatten wir mehr Freiheit als sie. Meine Mutter hat immer dazu gelernt. Und jetzt ist sie sehr offen: Ich kann mit meiner Mutter über alles reden. Wenn meine Freunde meine Mutter das erste Mal sehen, sind sie immer begeistert: Sie ist so süß, lustig, sehr sympathisch und humorvoll.
Sie ist so eine starke Frau, so stark. Uns hat es nie an etwas gefehlt. Sie hat hart in einer Metallfabrik gearbeitet. Durch die Metalldämpfe und Chemikalien hat sie Asthma bekommen."


Sati, 48:
"Ich hänge sehr an meiner Mutter, als Kind und jetzt immer noch. Wenn sie glücklich war, war ich auch glücklich. Wenn sie traurig war, war ich auch traurig. Glücklich war sie, wenn sie für uns mal etwas tun konnte. Aber sie konnte nicht viel mit uns unternehmen, weil sie so viel gearbeitet hat. Mein Vater ist mit 46 gestorben. Herzschlag.
Meine Mutter ist stark: Ich habe sie immer als stark gesehen. Es ist nicht leicht, mit so vielen Kindern zurecht zu kommen. Wir haben das nie gemerkt. Jetzt wohnt sie alleine, sie braucht keine Hilfe. Letztes Jahr hat sie ihren Arm gebrochen. Sie kann gut stricken und sie kocht und backt sehr gut: Es schmeckt alles, was sie macht."


Zeynep, 42:
"Ich beneide sie: So viele Probleme und dabei noch stabil!"

Hatice, 32:
"Sie ist eine wahnsinnig starke Frau. Ich glaube, sie hat an sich schon ein sehr schwieriges Leben gehabt und darunter gelitten. Sie hat sich ihrem Schicksal gebeugt und versucht, uns das Beste zu geben. Es fehlte uns an nichts. Dafür bin ich ihr absolut dankbar.

´Mama, wenn du studiert hättest, wäre aus dir eine Richterin geworden!´
Aber sie hat nie eine Schule besucht. Sie kann auch nicht lesen und schreiben. Sie wollte zur Schule gehen. Viele wollten zur Schule gehen. Aber die Schule damals im Dorf war nur für Jungen."


Sati Dinc, 48 Jahre alt
Glücklich bin ich, wenn es meiner Familie gut geht



Lieblingsfarbe. "Ich liebe richtiges Knallrot sehr, aber wenn ich es anziehe, wird mir irgendwie unwohl."
Sati ist als älteste Tochter von Meryem und Huseyin Sahin in der Türkei geboren. Mit acht Jahren kam sie mit ihren Eltern nach Deutschland. Sie wollte Schneiderin werden und hat diesen Beruf auch ein Jahr gelernt, doch dann bei den Eltern im Lebensmittelladen gearbeitet und mit achtzehn geheiratet. Aus der Ehe kommen zwei Kinder: Sohn Baris, 28, und Tochter Berna, 25. Mit ihrem Mann besitzt sie einen Kiosk, wo zwei ihrer Schwestern mithelfen. Für ihre Familie näht Sati gerne Kleidungsstücke, Gardinenvorhänge oder Kissenbezüge. Aber für das Stricken und Häkeln schlägt ihr Herz besonders. "Sati macht so schöne Sachen", sagt ihre Schwester Sevil. "Ich hab ihr immer gesagt: Mach ein Atelier auf! Hätte sie das damals gemacht, hätte sie heute einen Namen."

Sati über ihre Kindheit in der Türkei und in Deutschland, Selbständigkeit und Integration:

Türkei. "Ich bin in einem Dorf in der Türkei geboren. Wir haben alles selber gemacht: Puppenbetten, Puppengeschirr und aus zusammengelegten Ästen von Bäumen die Puppen. Meine Eltern haben mir eine echte Puppe aus dem Urlaub mitgebracht. Aber mit Spielzeug, das man selbst herstellen konnte, hat es noch mehr Spaß gemacht."

Deutschland. "Mit acht bin ich nach Deutschland gekommen, aus einem Dorf in die Stadt. Ich war sehr zurückhaltend: Musste in die Schule, aber konnte kein Deutsch. Ich kannte den Weg zur Schule und musste alleine zurechtkommen. Die Eltern haben den ganzen Tag gearbeitet."

Zusammenleben mit den Geschwistern. "Obwohl wir nicht viel hatten, war es sehr schön. Als die älteste Schwester hatte ich die Verantwortung und habe mich wie eine Mutter gefühlt. Alle Schwestern haben auf mich gehört, außer Zeliha. Zeliha hatte einen Charakter und ich auch. Alle Schwestern sind sensibel. Hatice ist sehr hilfsbereit, denkt mehr an andere als an sich selbst. Charakter, glaube ich, haben wir alle. Zeynep hat auch einen starken Charakter, sie schafft viel und ist auch sehr sensibel."

Nach der Heirat zog Sati mit ihrem Mann nach Berlin.
"Als ich nach Berlin kam, ist es mir sehr, sehr schwer gefallen, ich konnte mich jahrelang nicht daran gewöhnen, dass meine Schwestern und meine Mutter da drüben waren und ich hier."

Selbständigkeit. "Ich wollte immer selbständig sein und das war ich auch. Mit achtzehn habe ich meinen zukünftigen Mann kennengelernt. Zwei Kinder haben wir jetzt: einen Sohn und eine Tochter. Mehr wollte ich nicht."

Integration. "Man muss sich doch integrieren: In einigen Dingen ja, in einigen nicht. Deutschland ist mein Land, mein Zuhause. Wenn ich in der Türkei bin, fühle ich mich fremd. Im Urlaub ist die erste Woche gut, die zweite auch, in der dritten Woche fange ich an, Deutschland zu vermissen. Meine Kinder denken schon Deutsch. Ich spreche mit ihnen Türkisch und Deutsch."

Hatice, 32 Jahre alt
Ich bin gerne Erzieherin



Zusammenleben mit den Geschwistern. "Wir haben unsere Kindheit in allen Zügen genossen, erlebt, ausgelebt. Natürlich hatten wir auch schwierige Momente. Wir waren alle zusammen sehr kreativ, lustig und wollten einfach mehr vom Leben: Mit Brettern haben wir Höhlen gebaut und auf dem Hof Theateraufführungen gemacht. Die Zeit möchte ich nicht missen. Wir haben uns immer aus der Patsche geholfen – bis heute."

Erzieherin. "Ich habe das Fachabitur im kaufmännischen Bereich gemacht, aber sehr schnell gemerkt: Ich möchte den Menschen nah sein, nicht den Zahlen. Dann habe ich die Ausbildung zur Erzieherin abgeschlossen und danach in Mädchentreffs gearbeitet. Das hat sehr gut funktioniert, bis die Finanzierung nicht mehr gewährleistet war...
Ich habe auch in Kindergärten gearbeitet. Mit Kindern muss man sehr sehr einfühlsam sein, weil viele aus problematischen Familien kommen und viel Last mit sich tragen. Sie können selber gar nicht definieren, woran das liegt, dass sie sich schlecht fühlen und in welche Richtung sie ihre Aggressionen, ihre Energien raus lassen müssen.
Als Erzieherin muss man sehr reflektiert gesellschaftlichen Problematiken gegenüber sein. Man muss auch überlegen, wie weit man selbst mit Vorurteilen belastet ist.
Ich bin gerne Erzieherin. Ich lese auch sehr gerne für die Kinder. Aber es gibt noch immer viele Bücher, die Rollenklischees und Rassismen bestätigen. Die lese ich den Kindern nicht vor, weil das schon in ihren Köpfen Vorurteile schafft."


Integration. "Die Menschen kritisieren nicht selber und übernehmen Fremdbilder. Das finde ich sehr schwierig. Das hilft nicht für die tatsächliche Integration.
Ich bin in Krefeld geboren und zwischen beiden Kulturen aufgewachsen. In Deutschland war ich ständig mit Vorurteilen konfrontiert und musste erklären oder aufklären. Und das sehe ich immer noch als meine Aufgabe, doch bin ich müde davon geworden. Äußerlich wirke ich nicht als Klischee einer Türkin und auf der anderen Seite bin ich keine Europäerin. Das ist natürlich ein Konflikt. Ich fühle mich als Europäerin, doch die Akzeptanz läuft irgendwie gegen die Wand. Aber das hat mich nur stärker zu dem gemacht, was ich bin.
Die Debatte "Integration" läuft meiner Meinung nach falsch. ´Wir dürfen hier kein Türkisch sprechen´ haben mir die drei Jahre alten Kinder im türkischen Kinderladen gesagt. Ich war fassungslos. Es ist verkehrt, einem Kind seine Sprache zu verbieten mit der Begründung, man schaffe dadurch eine Parallelgesellschaft."


Deutschland. "In Deutschland schätze ich, dass ich als junge Frau einfach ein selbständiges eigenes Leben ohne gesellschaftliche Kontrolle führen kann. Und in der Türkei spüre ich eine Art gesellschaftlicher Kontrolle sehr schnell."

Zeynep, 43 Jahre alt
Wenn ich hier bin, bin ich glücklich



Zeynep, die zweitälteste Schwester, lebt seit ihrem siebten Lebensjahr in Deutschland und hat seit ihrer Jugend immer hart gearbeitet. Vor zwei Jahren hat sie das Café "7 Schwestern" eröffnet. Ihren fünfzehnjährigen Sohn Ozan erzieht Zeynep nach der Scheidung alleine. "Zeynep hat ein besonderes Auge für Mode, Bilder und Gestaltung", sagt Sevil über sie.

Familie. "Meine Mutter war die Arbeiterin, mein Vater hat viel getrunken. Ich habe meinen Vater nie nüchtern gesehen. In unserem Dorf wurde viel getrunken. Morgens steht man auf und beginnt zu trinken. Raki oder Bier.
Früher war mehr Armut: Keine Arbeit, kein Essen, keine Klamotten, aber dafür mehr Kinder. Meine Mutter hatte zehn Kinder, drei sind gestorben. Meine Mutter ist mehr als 44 Jahre hier. Die Deutschen haben gedacht: Ah, die werden arbeiten, ein bisschen Geld machen und nach Hause gehen. Meine Eltern haben auch so gedacht. Die sind hierhergekommen, haben ihre Kinder geholt, die Kinder haben geheiratet und Kinder bekommen, ihre Kinder haben wieder geheiratet und wieder Kinder bekommen, deswegen können wir nicht wieder zurück."


Schule und Träume. "Jeder hat Träume. Aber je älter du wirst, desto mehr ändern sich deine Träume. Ich wollte eigentlich Lehrerin werden oder eine Geschäftsfrau in einem großen Immobilien- oder Architekturbüro sein. Als ich klein war, waren die anderen Kinder so schön angezogen... In den Ferien habe ich immer gearbeitet und gutes Geld verdient. Und dann habe ich mir gesagt, warum zur Schule gehen?

Mit sechs bin ich aus der Türkei gekommen und einen Monat später musste ich zur Schule. Ich habe kein Wort Deutsch verstanden. Mit der ganzen Familie – Onkel, Tanten, Cousins - haben wir nur Türkisch geredet. Manchmal konnte ich tagelang nicht zur Schule gehen, weil es meine Pflicht war, zuhause sauber zu machen und auf die Kinder aufzupassen. Meine Familie kann wirklich froh sein, dass wir keine schlechten Wege gegangen sind. Und unsere 1980er Jahre waren schwer. Viele meiner Freunde sind von Zuhause abgehauen, Prostituierte oder Heroinsüchtige geworden. Bei uns sagt man, wenn man ein Haus baut, muss der Grund stabil sein, aber unsere Familie war nicht stabil."


Zusammenleben mit den Geschwistern. "Das Zusammenleben unter uns Geschwistern war schwer. Bis ich achtzehn Jahre alt war, war ich Mutter und Vater für meine vier Kinder, meine vier jüngeren Schwestern. Die Verantwortung für eine Zehnjährige ist nicht leicht. Ich sehe sie noch heute als meine Kinder. Die haben alles schön und locker gehabt. Wir, die ältesten, wurden viel strenger erzogen und durften auch keinen Minirock anziehen."

Integration. "Die Politiker haben die erste Generation gesehen und denken, dass die zweite und dritte auch so ist. Unsere Generation ist integriert. Gehe mal zum Kotti, in die Oranienstraße oder zur Sonnenallee: Die meisten Steuern kommen doch von Ausländern. Die Politiker können nicht einfach behaupten: Ausländer müssen sich integrieren: 99 % von ihnen sind schon integriert."

Deutschland. "Deutschland ist meine Heimat geworden: Ich lebe seit 36 Jahren hier. Wenn ich in der Türkei bin, will ich ganz schnell wieder zurück. Wenn ich hier bin, bin ich glücklich. Den Charakter und die Erziehung der Deutschen finde ich am besten. Sie sind sehr korrekte Menschen: Es kann sein, dass sie ein bisschen streng oder ein bisschen gegen Ausländer sind. Damit haben sie auch recht. Manchmal sage ich, wenn ich Merkel wäre, würde ich viele Ausländer rausjagen. Wenn jemand hier etwas klaut, einen gefälschten Pass hat oder ohne Führerschein fährt - sofort abschieben. Deutschland ist eigentlich ein tolerantes Land. Rassisten gibt es überall, in der Türkei auch. Wenn Deutsche in Istanbul eine Kirche bauen würden, was hätten sie gemacht? Hätten sie sofort bombardiert."

Sevil, 34 Jahre alt
"Ich würde am liebsten immer Theater spielen"



Sevil, die zweitjüngste Tochter der Familie Sahin, arbeitet im Café "7 Schwestern". Bis heute hat sie vieles probiert. In ihrer freien Zeit spielt sie im "Naunynritze"-Theater und backt gerne. Besonders gelingen ihr Motivtorten. Sie träumt davon, irgendwann eine kleine Pension am Strand zu eröffnen.
"Als Kind wollte ich immer Ballett tanzen. Das ging aber nicht. Aber das mit der Schauspielerei, mit dem Theater kam alles hier, in Berlin. Ich war zuhause immer die Entertainerin. Wenn wir Besuch hatten, war ich der Mittelpunkt: Ich musste dann türkische Folklore tanzen. Auftritte hatte ich auch. In Berlin bin ich auf dem Geschmack gekommen, richtig auf der Bühne zu spielen. Meine jüngste Schwester, Hatice, hatte schon vorher in Berlin in einem Theater gespielt und ich habe bei den Proben mitgemacht. Das hat mir Spaß gemacht.
Und mein Abitur habe ich auch nachgemacht, mein Leistungskurs war ´Darstellendes Spiel´. Sechs Jahre lang habe ich Theater gespielt und ich würde auch heute am liebsten immer Theater spielen. Auf der Bühne kann ich meine Emotionen und das, was ich manchmal nicht aussprechen kann, zeigen."


Zusammenleben mit den Geschwistern. "Das Haus in Krefeld, wo wir gewohnt haben, war schön. Das war ein Reihenhaus mit drei Stockwerken und sechs Wohnungen. Wir hatten so schöne Nachbarschaftsverhältnisse. Wir haben uns alle gut verstanden.
Doch es gab immer Rumzickerei. Wir waren alle streitlustig! Aber jede hat geholfen. Wenn Mama etwas gekocht hat, waren alle da: ´Ah, Meryem hat was gekocht!´. Wir Kinder waren immer draußen und haben mit anderen Kindern gespielt. Das war eine schöne Zeit! Wir haben beides gelebt: Das Schlimme und das Schöne. Das Traurige, wenn man mit dem Tod konfrontiert wird. Wir haben die Trauer zusammen bewältigt.
Hatice und ich haben uns immer im Zimmer eingesperrt und uns gegenseitig Bücher vorgelesen, die wir aus der kleinen Stadtbücherei in unserer Straße ausgeliehen haben. Oder wir haben uns gegenseitig Briefe geschrieben und dann in einen schönen Umschlag getan, auch wenn wir uns gestritten haben: ´Verzeih mir! Ich liebe dich doch!´
Und Zeynep hat uns auch jede Woche aus Berlin Briefe geschrieben."


Integration. "Die Gespräche um die Integration? Ah, die machen mich manchmal wütend. Ich bin hier geboren. Ich bin hier zum Kindergarten, dann zur Schule gegangen, ich habe hier gearbeitet – ich habe noch nie in der Türkei oder woanders im Ausland gelebt. Ich kenne nur Deutschland. Deutschland ist meine Heimat. Und wo soll ich mich bitte integrieren? Ich habe mich schon integriert. Deutschland ist mein Zuhause. Ich denke Deutsch, ich rede Deutsch, ich träume Deutsch."

Berlin. "Nach Berlin wollte ich schon seit meinem sechzehnten Lebensjahr. Aber da war ich immer verliebt, deswegen das hat nie funktioniert. Auch wenn ich irgendwo anders leben würde, wäre Berlin der Ort, an den ich immer zurück kommen würde"






Karmela Neiburger
Ich bin studierte Philologin und stamme aus Riga. Mit siebzehn habe ich den Zusammenbruch des sowjetischen Systems miterlebt. Im Jahr 2000 bin ich als Kontingentflüchtling mit meiner Familie nach Deutschland gekommen. Hier habe ich mit der deutschen Sprache angefangen und die Gegend kennen gelernt. Berlin ist für mich eine große und faszinierende Stadt, wo aber jeder Stolperstein mich mit der Geschichte meines Volkes verbindet...

In Berlin arbeite ich als Russischdozentin und freie Journalistin.


Gefördert durch



Kooperationspartner



Agentur für Arbeit Berlin-Brandenburg









Women + Work

Beitrag vom 30.10.2013

AVIVA-Redaktion